Empörung scheint das Sprach- oder mindestens das Schreibvermögen zu beeinträchtigen. Vor allem dann, wenn man einen Unrechtsstaat geißelt. Der Chefredakteur erfindet im Seite-2-Kommentar neue Wörter: „Die Rechtsprechung war nicht unabhängig, sondern SED-lich.“ Und als ob eine SED-liche Rechtsprechung nicht schon schlimm genug wäre, fährt er fort: “Der freie Wille war frei, insofern er der Einheitsmeinung in der dem Politbüro gleichgeschalteten Presse entsprach.” Ich denke jetzt schon sehr lange über diesen Satz nach, doch es ist ihm bei bestem – freien – Willen einfach kein Sinn zu entlocken. Mal sehen, vielleicht bekommt man das durch Umformulieren hin: „Der freie Wille war insofern frei, als er der Einheitsmeinung entsprach.“ Klingt deutlich besser, aber das wollte doch bestimmt keiner sagen … Oder sollte es heißen: „Der freie Wille war solange frei, wie er der Einheitsmeinung entsprach?“ Möglicherweise, allerdings fragt man sich, was der freie Wille an dieser Stelle überhaupt zu suchen hat. Denn wie kann ein Wille einer Meinung entsprechen? Und wie wird ein Wille unfrei? Ich fürchte, hier ist dem Chefredakteur der Unterschied zwischen “freiem Willen” und “freier Meinung” ein bisschen verrutscht. Oder er hat zu viel gute Kinofilme gesehen, vielleicht “Im Auftrag des Teufels” (mit Keanu Reeves und Al Pacino), hier ist ja auch oft vom freien Willen die Rede – und vom Teufel. Und den gottlosen SED-Staat, das Politbüro, den Teufel und die Unfreiheit, das kann man doch flugs alles zusammen in einen … äh … in ein Fegefeuer werfen, nicht war? In dieser Hitze kann man dann auch vergessen, dass die Einheitsmeinung in der Presse, der der freie Wille entsprechen soll und welche wiederum dem Politbüro gleichgeschaltet ist, einfach keinen Sinn hat, so sehr man auch nach ihm sucht.
Doch nicht nur beim Chefredakteur ist das Sprachvermögen beeinträchtigt. Auf der Politik-Seite meldet sich der Direktor der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen zu Wort: „Ein Staat, der seine Bevölkerung mit Stacheldraht und Selbstschussanlagen einmauert, ist per se ein Unrechtsstaat.“ Das mag schon sein, das mit dem Unrechtsstaat, aber das mit dem Stacheldraht ist schwierig: Zum Mauern braucht man Steine und Mörtel, alles andere taugt dazu nicht und man kann daher weder mit Stacheldraht noch mit Selbstschussanlagen irgend jemanden einmauern. Auch dann nicht, wenn man noch so drastisch schildern möchte, wie das Unrecht ausgesehen hat.
Der anschließende Satz ist dann leider auch nicht besser: „Wenn er auch noch mehr als 200 000 Menschen unschuldig ins Gefängnis wirft, ist dies erst recht offenkundig.“ Offenkundig ist schon offenkundig, offenkundiger geht’s nicht mehr, auch nicht erst recht.
Und „dass an dieser Einschätzung gerüttelt wird“, geht leider auch nicht: Man kann an Grundfesten rütteln, mit Einschätzungen klappt das nicht besonders gut, die können besser in Frage gestellt werden.
Und da wir gerade dabei sind: Es ist auch nicht ganz leicht, dass „der fundamentale Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur ins Schwimmen gerät.“ Das ist nicht nur „mit einem demokratischen Politikverständnis“ (hm, was mag das sein?) „nicht vereinbar“, sondern auch mit der deutschen Sprache, weil die hier eher die Formulierung bereithielte, dass der Unterschied verwischt wird oder vielleicht sogar verschwimmt.
Den kleinen Beziehungsfehler ein paar Zeilen weiter: „41 Prozent der Ostdeutschen sind der Ansicht, die DDR sei kein Unrechtsstaat gewesen. Nur 28 Prozent sagen, er war es sehr wohl“, wollen wir dann nicht weiter kommentieren und uns der nächsten Politik-Seite zuwenden.
Hier heißt es zunächst: „Nach sieben Stunden war die Zeit des Zögerns vorbei.“ Was, bitte, ist die Zeit des Zögerns? Warum konnte man nicht einfach schreiben, dass nach sieben Stunden des Zögerns irgend etwas passierte? Möglicherweise, weil uns auch im Folgenden nicht erklärt wird, was es mit den sieben Stunden auf sich hatte: „Als Angela Merkel kurz vor Weihnachten ihren ersten Wirtschaftsgipfel im Kanzleramt veranstaltete, genügte die Prognose von Bert Rürup, um die Regierung in Alarmstimmung zu versetzen.“ Und auch bis zum Ende des Artikels erfahren wir dazu nichts.
Stattdessen das Folgende: „Ohnehin kämpft Steinbrück momentan mit weiteren Sorgen: die faulen Wertpapiere, die … die Bilanzen deutscher Banken belasten und den Kreditfluss lähmen.“ Flüsse, und seien es Kreditflüsse, kann man nicht lähmen, man kann sie höchstens aufhalten, stauen oder umleiten.
Bleibt noch die kleine Headline auf der Rhein-Ruhr-Seite: „Offene Fragen nach Tod von Kind“. Warum konnten es keine offene Fragen nach dem Tod eines Kindes sein?
Vielleicht, weil der freie Wille dem nicht entsprach, insofern er gerade die Zeit des Zögerns brauchte, um die Flüsse zu lähmen, damit der Unterschied nicht ins Schwimmen gerät.